Mit Herz und Verstand
1. Augustrede 2022, gehalten am 1. August auf dem Bleichenberg (Gmd. Biberist, Derendingen, Zuchwil) und am 31. Juli in Bättwil (Gmd. Bättwil und Witterswil)
„Das Herz hat seine Gründe, die die Vernunft nicht kennt“, schrieb der französische Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623−1662). Was leitet uns eigentlich, wenn wir Entscheide zu treffen haben: der Bauch, der Kopf? Wie kommen wir denn zu all den Entscheidungen? Wir könnten zwar mit reiner Vernunft handeln, eine Situation richtig wahrnehmen, die Zusammenhänge erkennen und uns dann unser Urteil bilden, um schliesslich unser Handeln danach auszurichten. Aber sind wir wirklich in der Lage, die Zusammenhänge und Fakten jederzeit richtig einzuordnen und abzuschätzen? Gerade, wenn vieles im Fluss und einige Unbekannte im Spiel sind? Die Antwort ist klar. Ich plädiere für Entscheidungen, die mit Herz und Verstand getroffen werden, von vernünftigen Menschen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben. Menschen, die nicht vor falschen Entscheidungen gefeit sind, die aber auch dazu stehen können und bei neuen Erkenntnissen zu Kursänderungen bereit sind.
Liebe Festgemeinde, auch ich hätte heute gerne ein grosses Feuerwerk (resp. Höhenfeuer) gesehen, endlich wieder, nachdem das Feiern in den letzten zwei Jahren ja kaum möglich war. Das Herz vieler hätte sich an Feuerwerk und Höhenfeuer erfreut, aber der Verzicht ist angesichts der Trockenheit ein Gebot der Vernunft, das sieht nach so vielen trockenen Tagen auch unser Herz ein.
Unser demokratisches System mit seinen unabdingbaren Prinzipien wie Wahlrecht, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Presse- und Meinungsfreiheit und Schutz von Minderheiten ist gerade heute, in Zeiten, wo der Populismus allgegenwärtig ist, ein wichtiger Grundpfeiler unserer Gesellschaft. Angesichts all der Unsicherheiten ist es wichtig, dass wir in einer Gesellschaft leben, die davon ausgeht, dass wir auf unsere Erfahrungswerte zurückgreifen und mit Herz und Verstand als freie Wesen in unseren staatlichen Strukturen demokratisch entscheiden können.
Der 1. August ruft uns in Erinnerung, dass wir alle in der Verantwortung stehen, uns einzubringen, unsere demokratischen Rechte wahrzunehmen und uns für das Wohl des Einzelnen und damit auch solidarisch für das Wohl aller Mitglieder unserer Gesellschaft einzusetzen. Die direkte Demokratie, die Mitsprachemöglichkeit jeder Einzelnen auch in Sachfragen hat sich auch in den vergangenen zweieinhalb Jahren bewährt. Die Entscheide, welche der Bundesrat und das Bundesparlament auf Bundesebene während der Pandemie rasch und unkompliziert getroffen hat, sind durch das Volk eindrücklich bestätigt worden. Das demokratische Modell Schweiz hat auch in der Krise bewiesen, dass es funktioniert und die Bevölkerung hat eindrücklich aufgezeigt, dass sie ihre demokratischen Rechte ausübt, wenn es wirklich wichtig ist. Die Pandemie hat ganz viele Menschen bewegt, und Stimmbeteiligung war phasenweise ausserordentlich hoch. Viele Menschen waren in ihrem Alltag von der Politik betroffen, das hat zu einer Politisierung und regen Auseinandersetzung mit verschiedenen Meinungen zum Covidgesetz geführt. Und wichtig für eine Demokratie: Nach den beiden Abstimmungen wurde auch das Resultat akzeptiert. Auch von jenen, denen das Herz etwas anderes gesagt hat als das, was von Politik und/oder Mehrheit entschieden wurde.
Freie Meinungsbildung gewährleisten
Neuste Untersuchungen unter Berücksichtigung der Situation in der Pandemie zeigen: Die Schweizer Stimmberechtigten haben auch im internationalen Vergleich ungewohnt hohes Vertrauen in das politische System und stützen den Gesetzgebungsprozess. Uns allen, die wir tagtäglich in der politischen Verantwortung stehen, muss bewusst sein, dass wir mit diesem Vertrauen sehr sorgfältig umgehen müssen. Aber auch, wie schwierig es ist, den politischen Meinungsbildungsprozess der Bevölkerung so zu gewährleisten, in Zeiten, wo in den sozialen Medien verkürzt, überspritzt und in der eigenen Bubble meist auch unwidersprochen kommuniziert wird. Unser Ziel muss sein, dass die politische Entscheidungsfindung in Kenntnis verschiedener Meinungen und aller Fakten erfolgen kann. Eine kürzlich durchgeführte Studie hat ergeben, dass die wenigsten zur politischen Meinungsbildung nur Social Media nutzen. Das ist doch schon mal beruhigend. Jedoch wird in dieser Studie eindrücklich aufgezeigt, dass latent die Gefahr besteht, dass eine freie Willensbildung in einem Abstimmungskampf nicht mehr gewährleistet ist und dass sich Massnahmen aufdrängen, die sicherstellen, dass die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger künftig zumindest prüfen können, wer die Urheber und was die Qualität einer Information sind. Während wir uns Sorgen machen über Verlässlichkeit von Informationen in all den verschiedenen Medien, sind bereits neue Möglichkeiten in Sichtweite: Willensbildung durch permanente Datenanalytik, will heissen, künstliche Intelligenz soll die Meinungsbildung vornehmen. Technokratie statt Vernunft und herzgesteuerte Entscheidungsmechanismen. Ehrlich gesagt, keine Perspektive, bei der mir warm ums Herz wird.
Ich glaube, Technokraten könnten mit unserem schweizerischen, föderalistischen System nicht viel anfangen. Weil wir aufeinander, auf unsere Traditionen auf vieles, das uns ans Herz gewachsen ist, Rücksicht nehmen, kann unser System nie so «effizient» sein, wie Technokraten/Technokratinnen sich dies vorstellen. Wir müssen hier eine Balance zwischen entschlossenem Reagieren auf drängende Herausforderungen und Rücksichtnahme finden.
In meiner Zeit als Frau Landammann letztes Jahr war meine wertvollste Erfahrung die vielen schönen Begegnungen mit den 100-jährigen Jubilarinnen und Jubilaren. Diese 100jährigen haben in ihrem Alltag, ihrem Beruf wahnsinnige Entwicklungen mitgemacht. Ein Jubilar, er war sein ganzes Berufsleben lang Lokführer, hat mir erzählt, wie er noch auf der Gotthardstrecke mit Dampfloks mit Kohle betrieben gefahren ist. Wie er die Elektrifizierung miterlebt hat und schliesslich mit hochmodernen Loks herumgefahren ist. Die Pandemie hat nun nochmals einen Wahnsinns-Schub in Sachen Technologie gegeben, die Digitalisierung hat in den letzten zwei Jahren Riesenschritte gemacht und wir werden in nächster Zeit noch schneller voranschreiten.
Vor einer Woche war ich noch im Kanton Uri in Amsteg in den Ferien. Wer sich in Amsteg umschaut, der sieht an dieser schmalen Stelle des Tales, dass sich seit der Zeit, als die Dampfloks auf der Gotthardstrecke durch die Kehrtunnel von Wassen gefahren und die wenigen Automobile neben der Postkutsche gemächlich über den Gotthardpass gefahren sind, massiv verändert hat: Neben den alten Verkehrswegen rollt der Verkehr auf der mehrspurigen Autobahn durch das Tal und bringt auch die Strasse über den Gotthard an ihre Grenzen, wenn sich der Stau-Ausweichverkehr durch die Dörfer wälzt. Unten durch, versteckt unter den hohen Bergen, verläuft die neue Eisenbahnalpenquerung und links und rechts vom Tal stehen entlang der Reuss, die sich auch noch durch das Tal zwängt, grosse Wasserkraftwerke, welche eigentlich im Winter uns mit Strom versorgen sollten. Nur, wer zu den Stauseen wandert, bemerkt, dass diese noch nicht ganz gefüllt sind und beunruhigend ist, dass wir nicht wissen, ob sie bis im Winter wirklich noch gefüllt werden. Im Moment besteht sogar die Gefahr des Wassermangels.
Wir sind ein Teil des Ganzen
Wer sich diese Situation vor Augen führt, weiss, dass wir Sorge tragen müssen zu den Kantonen, durch welche die Lebensader unserer Versorgung mit Energie sowie Transportwege für wichtige Güter auf Strasse und Schiene führen. Die Schweiz ist zu kleinräumig, dass jeder Kanton für sich selbst die Versorgungssicherheit gewährleisten und den Klimawandel verlangsamen kann. Hier müssen wir gemeinsam auf Bundesebene die nötigen Weichen stellen und Lösungen finden, ohne ausser Acht zu lassen, was Kantone wie Uri für das Wohlergehen der Schweiz leisten. Damit kommen wir zum Ursprung unserer Schweiz zurück: Uri, Schwyz und Unterwalden haben 1291 den Grundstein für eine demokratische und föderalistische Schweiz gesetzt. Heute gilt es, gemeinsam einzustehen für eine lebenswerte, solidarische Zukunft aller Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz, im Bewusstsein, dass auch wir nur ein kleines Puzzlestück in Europa, in der Welt sind, das sich immer auch als Teil des Ganzen verstehen muss.
Lasst uns eine solidarische Gemeinschaft sein, von vernünftigen Menschen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben.
Ich wünsche Ihnen allen ein wunderbares Fest