Willi Ritschard: Büezer, Gewerkschafter, Genosse

Begrüssungsrede zum 100. Geburtstag von Willi Ritschard Solidaritätsfest Balmberg vom 15. September 2018

Folgende Würdigung schrieb der Tages-Anzeiger am 4. Oktober 1983, an dem Tag also, an dem Willi Ritschard bekannt gab, dass er Ende Jahr zurücktreten werde: «Willi Ritschard ist zu einem unersetzbaren Symbol geworden, nicht nur für die braven Bürger auf dem Lande, sondern für Tausende von Schweizern, die den Furglers und Friedrichs und wie die gescheiten Politiker alle heissen, einfach nicht mehr so ganz trauen mögen und froh sind, dass dort drinnen im Bundeshaus noch einer ist, der nicht nur mit dem Kopf, sondern sichtbar auch mit dem Bauch dabei ist».

Willi machte tatsächlich viel Politik aus dem Bauch heraus – aber nie kopflos. Seine grosse Stärke war als Vertreter der linken Minderheit im Bundesrat die Kommunikation. Im Gegensatz zu den grossen Analytikern und Intellektuellen wie etwa FDP-Bundesrat Furgler, konnte Willi Ritschard blutleere politische Sachgeschäfte in eingängigen Bonmots verpacken – ohne dass diese je zu Binsenwahrheiten verkamen. Zu fehlenden Investitionen für den Gotthardbasistunnel sagte er 1974 einst: «Wenn 1502 die Königin Isabella von Christoph Kolumbus eine Kosten-Nutzen-Analyse verlangt hätte, wäre wahrscheinlich Amerika nie entdeckt worden. » Was hätte Willi wohl für einen Spruch zur Steuervorlage 17 oder zum kantonalen Finanzausgleich bereit?

Dass Willi als Büezer ein Mann vom Volk war, das war weit über den Kanton Solothurn und über das linke Lager hinaus bekannt. Er war aber nicht einfach ein Mann des Volkes, weil er ein Büezer war, sondern vielmehr, weil seine Erfahrungen als Büezer und als Gewerkschafter ihn gelehrt haben, was Gerechtigkeit und sozialer Zusammenhalt bedeutet. Politik aus dem Bauch heraus: Das war bei Willi Ritschard Politik aus Empathie, aus Solidarität.

Leider verstehen viele Menschen heute Politik aus dem Bauch heraus als das genaue Gegenteil von Empathie und Solidarität. Viele Politikerinnen und Politiker weltweit– gerade am rechten Rand – empören sich an der sogenannten «political correctness», der politischen Korrektheit. Aber eigentlich wollen sie einfach eine Entschuldigung dafür, dass sie grundsätzliche Anstandsregeln mit Füssen treten, dass sie ohne Konsequenzen mit sexistischen, fremdenfeindlichen und diskriminierenden Aussagen Wahlkampf führen. Politik aus dem Bauch heraus – dass ist Willi Ritschard und nicht Donald Trump.

Heute Morgen haben im Alten Spital die Workshops, die unter dem Motto «Wissen ist Macht» standen, stattgefunden. Ausweitung des Stimmrechtes, Massnahmen gegen die Zersiedelung und die Herausforderungen des Klimawandels: Grosse Themen, die zeigen, wie vielfältig heute moderne Sozialdemokratie gedacht und gelebt werden kann. Besonders erfreulich: Drei der vier Workshops wurde von Vertreterinnen der Solothurner Jungparteien – Junge SP, Junge Grüne und JUSO - geleitet. 100 Jahre nach der Geburt von Willi und 100 Jahr nach dem Landesstreik – zwei definierende Ereignisse für die Sozialdemokratie und die Schweiz – steht eine nächste Generation bereit, die aktiv an einer besseren Gesellschaft arbeiten möchte.

Manchmal wird den Jungen ja vorgeworfen, sie seien zu wenig erfahren, zu wenig im politischen Betrieb integriert. Das war Willi aber auch! Und so überrascht es nicht, dass Willi auch keine Berührungsängste mit der 68er-Bewegung und Verständnis für die bewegte Zürcher Jugend in den 80er-Jahren hatte. Während sich andere empört über die «heutige Jugend» den Kopf zerbrachen, solidarisierte Willi sich – nicht aus kühnem Kalkül oder kalter Analyse, sondern aus Empathie und Verständnis – wie gesagt: aus dem Bauch heraus.