Vom Steuerloch verschluckt
Ein Zirkuszelt in der gleissenden Sommerhitze, ein paar wenige Zuschauerinnen und Zuschauer, die gerade die Nachmittagsvorstellung verlassen. Es sei wohl das letzte Mal, dass der Zirkus hier in dieser Stadt sein Zelt aufgeschlagen habe, meint ein Vertreter des traditionsreichen Familienunternehmens gegenüber der lokalen Presse. Die doppelt so hohe Miete für den Standplatz hätte der Zirkus ja noch hingenommen, doch was können Akrobaten und Clowns in einer Stadt ausrichten, in der die Leute ihre Lebensfreude offenbar gänzlich verloren haben? Dazu komme, dass die umliegenden Gemeinden die Stadt konsequent meiden würden.
Das Städtchen habe es offensichtlich mit seinen Nachbarn verdorben, hat der Zirkus-Mann erfahren. Er hat gehört, dass der Stadtrat sich geweigert hatte, einen neuen Finanzausgleich zu unterstützen. Wegen des grossen Steuerlochs war die Stadtregierung nicht bereit, einen der Finanzstärke des Städtchens entsprechenden Beitrag zu leisten, obwohl sie grundsätzlich selbstverständlich vom Solidaritätsprinzip überzeugt sei. In einer kantonalen Abstimmung sei der neue Finanzausgleich dann zwar angenommen worden, aber die Nachbargemeinden hätten nicht vergessen, dass die Kleinstädter im Abstimmungskampf unverfroren betont hatten, nur für sich selber zu schauen.
Morgens um sieben am Bahnhof, wo sich einst riesige Menschenmengen durch die enge Unterführung drängten, ist es still geworden. Hier umsteigen? Wenn es denn unbedingt sein muss. Hier aussteigen? Bloss nicht! Eigentlich hätte der Bahnhof umgebaut werden müssen. Die SBB hatte ein spannendes Projekt präsentiert. Dazu hätte ein Velo-/Fussgängersteg über die Aarge gehört und ein Zugang entlang dem Aareufer. Die SBB hatten geglaubt, sie könnten an ein früheres Projekt der Stadt anknüpfen, das bei der Bevölkerung damals auf ein sehr positives Echo gestossen war. Doch der Stadtrat wollte davon nichts mehr wissen. Bei dem gegenwärtigen Steuerloch sei für zukunftsgerichtete Investitionen kein Geld vorhanden. So mussten die SBB wohl oder übel auf den Umbau des Bahnhofs verzichten, was zur Folge hatte, dass die Stadt an Attraktivität und damit auch an Einwohnern verlor.
Trotz hochsommerlicher Temperaturen ist die Badeanstalt halb leer. Statt gebräunter Schönheiten glitzern die Abfalleimer um die Wette. Beim Rundgang durch die Stadt erinnern unbewohnte und ungenutzte städtische Liegenschaften an bessere Zeiten: Das Gebäude, das einst Jugendliche mit viel Musik und Aktivitäten belebt hatten, wo Kinder Spielsachen aussuchen konnten, oder das Haus, wo ältere Menschen tagsüber Betreuung und Bleibe fanden. Das verkalkulierte Steuerloch drohte die ganze Stadt zu verschlucken und fast alle waren parallelisiert und glaubten, die Zukunft liege im Niederreissen von Einrichtungen, die zuvor in jahrelanger, engagierter, oftmals freiwilliger Arbeit aufgebaut worden waren.
Im blitzblank neu renovierten Stadthaus rätselt der Stadtrat, warum in der Kleinstadt alles still steht. Von der Dachterrasse aus streift der Blick der Stadträte suchend über das doch recht überschaubare "Häusermeer" Da! Auf dem Bahnhof drüben bewegt sich ein Zug in raschem Tempo. Zürich-Bern, ohne Halt. Die Stadtmütter- und -väter klopfen sich auf die Schultern. "Es läuft doch etwas, hier in unserer Stadt!" Und sie fliehen vor der Sonnenglut wieder in ihr klimatisiertes Büro.
Die Sommerhitze hat auch mich erwischt... Welch ein Glück, aus diesem schrechlichen Traum wieder aufzuwachen!