Von roten Teufeln und roten Linien
Rede zum 1. August 2018 in Olten
Am ersten August schauen wir gerne etwas zurück. Eigentlich könnten wir einen Stadtrundgang machen und uns einige Denkmäler anschauen. Unsere vom Freisinn geprägte Stadt kann einiges vorweisen: zwei Bundesräte, freisinnige Stadtammänner, freisinnige Unternehmer und Vordenker, Disteli, Munzinger, Hammer und wie sie alle heissen.
Ein für mich ganz besonderes Denkmal steht mitten auf dem Parkplatz in der Schützi: die Skulptur von Schang Hutter als Erinnerung an den Generalstreik im Jahr 1918. Vor 10 Jahren wurde es aufgestellt. Die Oltner Stadtregierung hatte damals lange gezögert, bis sie schliesslich dann doch den Platz freigegeben hatte. Jetzt im Gedenkjahr 2018 ist alles ein bisschen anders, das Thema Landesstreik ist ein kulturelles Grossereignis mit nicht zu unterschätzender touristischen Wirkung. Aber seien wir ehrlich, das beliebteste Oltner Denkmal ist nicht einem politischen Ereignis oder einem Politiker, schon gar nicht einer Politikerin, gewidmet, sondern einem kürzlich verstorbenen König, dem stadtbekannten Kater Toulouse.
Ich erlaube mir aber trotzdem nochmals einen Oltner Politiker zu erwähnen, der einen starken Bezug zum Landesstreik hat. Er war einer der prägendsten Figuren jener Jahre, an den aber heute kein Denkmal mehr erinnert. Es gibt zwar eine Büste von ihm, die aber von den Oltnern verschmäht wurde und schliesslich Asyl bei einem Sozialdemokraten in Solothurn fand.
Vielleicht erinnern wir uns nicht so gerne an Jacques Schmid, weil er so exemplarisch dafür steht, dass Politik eben auch Konflikt bedeutet, gerade in den Jahren nach dem Generalstreik, die Jahre zwischen zwei Weltkriegen. Jahre, die von schweren Krisen und Konflikten geprägt waren und so viele Wunden hinterlassen haben. Die Gesellschaft war aufgeteilt in verschiedene Lager, die im Alltag kaum miteinander in Berührung kamen.
Jacques Schmid war ganz Kind seiner Zeit, ein Mann mit Prinzipien, ein Kämpfer mit einer Mission. Es gab rote Linien, da gab es für den Sohn eines alleinerziehenden Bahnangestellten mit 13 Geschwistern nichts mehr zu diskutieren. Als junger Unteroffizier - damals noch im Kanton Zürich - verweigerte er den Einsatz als Streikbrecher in einer Fabrik und bezahlte dafür mit einem halben Jahr Gefängnis.
In Olten übernahm er ab 1911 eine führende Rolle in der stärker werdenden Arbeiterbewegung im Kanton Solothurn. Er war jahrelang Chefredaktor der Arbeiterzeitung, der Vorgängerin der wohl manchen unter Ihnen noch bekannten AZ, wurde 1917 in den Nationalrat und 1931 nach einem unglaublich gehässigen Wahlkampf in die Solothurner Regierung gewählt. Als Parteipräsident legte er ein Engagement an den Tag, das heute schlichtweg undenkbar ist. Tagein, tagaus war der «rote Mephisto», wie er von seinen Gegnern manchmal genannt wurde, nach Feierabend mit seinem Fahrrad im Kanton unterwegs, um Parteianlässe zu besuchen, um Menschen für seine Sache zu begeistern.
Jacques Schmid – wie auch seinen politischen Gegnern – war es damals wirklich ernst. Rote Linien hatten sie damals alle. Zuweilen wurden die Auseinandersetzungen sogar handgreiflich ausgetragen. Jacques Schmid wurde mit Steinen beworfen und sein Haus von Vandalen beschädigt.
Die sogenannten bürgerlichen Parteien bildeten je nach Situation ein Zweckbündnis, aber im Grunde genommen waren auch sie verfeindete Lager. Eine rote Linie, die die Katholisch-Konservativen und die Freisinnigen allerdings zusammenrücken liess, war der Sozialismus oder gar Kommunismus. Allein die Furcht davor reichte, um die Armee gegen Arbeiter einzusetzen. Aber auch weniger radikale Ideen, wie etwa die Altersvorsorge oder das Frauenstimmrecht - zentrale Forderungen aus der Zeit des Landesstreiks - blieben sehr lange ohne Chance. Der katholische Verleger und Politiker Otto Walter beispielsweise war felsenfest überzeugt, mit der Ablehnung des Frauenstimmrechts die Würde der Frauen zu schützen.
Stellen wir uns vor, die Befürworter des Frauenstimmrechts hätten sich damals mit einem Kompromiss zufriedengegeben, vielleicht mit dem passiven Wahlrecht für die Frauen? Dann dürften wir also heute wählen und abstimmen gehen, aber nicht selber kandidieren. Es gibt durchaus Situationen, wo der Kompromiss nicht die Lösung ist.
Aber wir sollten mit unseren roten Linien vorsichtig sein. Wo unsere roten Linien verlaufen, müssen wir als Gesellschaft immer wieder neu bestimmen. Das ist ein laufender Prozess, bei dem möglichst viele miteinbezogen werden sollten. Ich glaube und hoffe, wir haben im Laufe der Jahre gelernt, mit unseren roten Linien umzugehen. Die Konservativen konnten feststellen, dass Frauen, die vom Wahl- und Stimmrecht Gebrauch machen, sich nicht in Monster verwandeln. Die Freisinnigen haben erfahren, dass die Welt nicht untergeht, wenn ein «roter Mephisto» in die Regierung gewählt wird. Die Linken mussten ernüchtert feststellen, dass der Sozialismus bis heute noch nicht vom Himmel gefallen, respektive erkämpft worden ist.
Jacques Schmid steht stellvertretend für die Integration der Arbeiterbewegung in das politische System. Vom Kommunismus russischer Prägung hat er sich trotz anfänglicher Begeisterung sehr schnell distanziert, was seine Gegner allerdings nicht davon abgehalten hat, ihn noch jahrzehntelang als «Bolschewiken» zu verunglimpfen. Ich nehme an, der 1960 Verstorbene war zeitlebens davon überzeugt, dass der Sozialismus irgendwann den Kapitalismus ablösen würde. Aber er entwickelte eine Gelassenheit und einen gesunden Pragmatismus in seinen Ämtern als Regierungsrat und als Nationalrat. Der Verteufelte erwies sich als sehr fähiger und schlussendlich auch von seinen Gegnern geschätzter Staatsmann.
«Hinter Schloss und Riegel mit solchen traurigen Volksverhetzern!» wurde Jacques Schmid in den Dreissigerjahren noch entgegengerufen. Irgendwie erinnert mich das an den erfolgreichen Wahlkampf eines amerikanischen Präsidenten, der seine helle Freude hatte, wenn seine Anhänger seine Gegenkandidatin hinter Gitter wünschten. Wohlgemerkt, nicht in den Dreissigerjahren, sondern 2016. Wir sollten auf der Hut sein. Zurück in das Klima der Krisenjahre nach dem Landesstreik, das ist eindeutig die falsche Richtung. Wir sollten das Bedrohen und Verteufeln von Andersdenkenden definitiv hinter uns gelassen haben. Ja, wir haben Überzeugungen, für die wir kämpfen und uns mit Herz und gesundem Menschenverstand einsetzen. Und ja, es gibt rote Linien, wo unsere Kompromissbereitschaft aufhört.
Eine rote Linie ist für mich beispielsweise überschritten, wenn Grundprinzipen unseres rechtsstaatlichen Zusammenlebens zur Diskussion gestellt werden, wenn Stabilität und Verlässlichkeit systematisch untergraben werden und unsere Demokratie geschwächt wird. Wenn die europäische Menschenrechtskonvention, die unter dem Eindruck des Schreckens des Zweiten Weltkriegs ausgearbeitet worden war und die Grundlage einer funktionierenden Demokratie ist, plötzlich für die Schweiz nicht mehr verbindlich sein soll. Wenn völkerrechtlich vereinbarte Mindeststandards für eine friedliche, sichere und rechtsstaatliche Gesellschaft durch die sog. Selbstbestimmungsinitiative in Frage gestellt werden, dann ist es höchste Zeit, Alarm zu schlagen. Ich hoffe, dass wir uns da über Parteigrenzen einig sind und gemeinsam kämpfen werden.
Aber heute feiern wir erst mal. Zum Beispiel die moderne Schweiz, die zusammenarbeitet, um Lösungen zu finden, die das Gemeinsame betont und nicht das Trennende. Eine moderne Schweiz, die zusammenbringt und integriert, in der gute Argumente Gewicht haben. Eine moderne Schweiz, in der wir den 1. August mit Freude zusammen feiern und es auch mal krachen lassen.