Wie viel Digitalisierung verträgt das Alter?
Grussbotschaft Kongress Schweizerischer Verband für Seniorenfragen vom 6. September 2018
Liebe Anwesenden.
Eigentlich ist dieser Kongress ja ein Anachronismus. Für einen Kongress braucht man heute keine grossen Säle wie diesen hier mehr, sondern nur noch einen Laptop mit integrierter Kamera und ein Headset. Menschen aus aller Welt können sich mit einem einfachen Klick miteinander verbinden. Informatikerinnen aus Hong Kong können mit der Abteilungsleiterin in Zürich über die Umstrukturierung des EDV-Systems in London diskutieren – und niemand muss auch nur einen Schritt aus dem bequemen Bürostuhl betätigen. Warum treffen wir uns also so altmodisch-persönlich hier in Olten, wenn wir alle zu Hause auf der Couch sitzen könnten?
Wie es bereits im Programm für heute angetönt ist, geht im Zuge der Digitalisierung in vielen Bereichen der persönliche Kontakt verloren. Das geht längst über die digitale Arbeitsteilung hinaus: Heute kann man sich dank Self-Checkout-Kassen und E-Banking seine täglichen Beschaffungen ohne menschlichen Kontakt verrichten. Was früher das Gespräch an der Kasse oder beim Bäcker war, ist heute das leise Surren der Maschine. Doch gerade in der zwischenmenschlichen Kommunikation ist der persönliche Kontakt nicht wegzudenken. Sie besteht eben nicht aus einer Aneinanderreihung von Wörtern, sondern lebt vom Gegenüber. Sprache ist aktiv, Gesichtsausdrücke und Tonlagen verändern die Bedeutung des Gesagten grundlegend. Die Diskussionen rund um Facebook und Co. zeigen eindrücklich, dass die sogenannten sozialen Medien durch das Wegfallen vom Gegenüber zu einer Enthemmung führen können, welche einen konstruktiven Dialog untergräbt – und manchmal gar zu drastischen Ausgrenzungen und Diskriminierungen von Frauen und Minderheiten führen kann.
Die Frage, die im Rahmen dieses Kongresses diskutiert werden soll, ist auch eine Frage der Ausgrenzung. Wie viel Digitalisierung verträgt das Alter? Wie kann der Zugang von älteren Menschen zu den Erneuerungen im Zeitalter der Digitalisierung gewährleistet werden? Immer wie mehr Teile unserer Gesellschaft verlagern sich in den digitalen Bereich. Wer sich in diesem Raum nicht zu bewegen weiss – so die berechtigte Angst – wird ausgeschlossen von weiten Teilen des gesellschaftlichen Lebens. Die Angst ist dabei nicht neu: In der Filmwochenschau vom 03.09.1969 – vielleicht mag sich ja jemand noch erinnern – wurde über das Fehlen von EDV-Unterricht moniert. Der Moderator beklagte in dramatischem Ton, dass der Schweiz das Computerzeitalter bevorstehe, aber nur wenige Lehrerinnen und Lehrer dafür ausgebildet seien. Den Schülerinnen und Schüler der kommenden Jahrgänge drohe, so der Moderator, die Ausgrenzung vom Zeitalter des Computers. Ich, mit meinem Jahrgang ’62, bin eine Vertreterin dieses Jahrgangs. Und tatschlich: Der Start ins Computerzeitalter war am Anfang schwierig. Aber mit der Zeit hat man sich daran gewöhnt, die Seminararbeiten an der Uni nicht mehr an der Schreibmaschine, sondern am Comodore 64 zu schreiben.
Denn eigentlich ist die Digitalisierung auch nur eine gesellschaftliche Entwicklung unter vielen. Die Gesellschaft ändert sich immer in einem schnelleren Tempo, als dass sich die Menschen anpassen können. Das war schon immer so: Kaiser Willhelm II sagte ja bekannterweise um 1900: »Ich glaube an das Pferd. Das Automobil ist nur eine vorübergehende Erscheinung.«
Gerade mit dem Alter multiplizieren sich aber die Probleme der modernen Welt mit den körperlichen und geistigen Herausforderungen des Älterwerdens. Und das kann zu Anpassungsschwierigkeiten, und im schlimmsten Fall, zu Ausgrenzungen von älteren Menschen in der Gesellschaft führen. Alle wollen schneller und mehr Pendeln, aber wer schaut dafür, dass die Umsteigzeiten auch für Seniorinnen und Senioren zu bewältigen sind? Spartensender wie etwa die Musikwelle sollen privatisiert und möglichst digital werden, aber wer sorgt dafür, dass die ganze Hörerschaft weiterhin das Programm empfängt?
Die Antwort dafür ist simpel, und doch ist es immer wieder wichtig, sie zu betonen: Wir als Gesellschaft – und die Politik als ihr verlängerter Arm – sind aufgerufen, Ausgrenzungen in jeglicher Form entgegenzuwirken. Dieser Kongress hier, an welchem sich Wirtschaftsvertreterinnen, Wissenschaftler und Seniorinnenvertreter treffen, ist ein richtiger und wichtiger Weg, die Gesellschaft auf die Herausforderungen, welche besonders ältere Menschen im Alltag antreffen, aufmerksam zu machen. Denn die Frage ist für mich nicht «Wie viel Digitalisierung verträgt das Alter? », sondern «Wie können wir die Digitalisierung für alle Menschen gewinnbringend umsetzen? ». Bevor also der inhaltliche Teil des Kongresses beginnt, möchte ich noch anhand eines kurzen Beispiels illustrieren, was ich damit genau mit einer gewinnbringenden Umsetzung der Digitalisierung meine.
Das Projekt «Dementia Diaries» wurde von Journalistinnen und Journalisten in Schottland für Menschen mit Demenz umgesetzt. Da es dementen Menschen oft schwerfällt, im Nachhinein wichtige Erlebnisse aus ihrem Alltag nachzuerzählen, wurde ihnen in einem 3D-Drucker ein kleines Gerät hergestellt. Das Gerät bestand aus einem einzigen Knopf. Wenn also diese Menschen etwas Wichtiges erlebten, dann konnten sie diesen Knopf drücken und wurden direkt mit einer Art Combox verbunden. Dort konnten sie das Erlebte festhalten. Die Journalistinnen und Journalisten verarbeiteten dann diese Geschichte – natürlich unter Zusage der Teilnehmenden – zu Artikeln und sorgten so dafür, dass die Stimme dementer Menschen wieder in der Öffentlichkeit gehört wurde. So wurden ihre alltäglichen Herausforderungen sichtbar gemachen. Die Artikel wurden in vielen grossen Zeitungen abgedruckt, Fernsehstationen wie das BBC oder Sky berichteten in ihren Abendsendungen darüber. In der Folge wurden auch Politikerinnen und Politiker vermehrt auf die Probleme von dementen Menschen aufmerksam und reichten entsprechende Vorstösse im Parlament ein.
Ich wurde im Vorfeld zu diesem Anlass gebeten auch etwas über die Situation im Kanton Solothurn zu sagen. Das würde viel zu weit führen, wenn ich das im Detail tun würde. Eines wird aber anhand dieses Beispiels aus Schottland offensichtlich: Das Gemeinwesen, Kanton und Gemeinden müssen darum besorgt sein, dass die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger rechtzeitig und vollumfänglich erkannt werden. Es soll jeder und jede auch im Alter den alltäglichen Anforderungen gewachsen sein und so lange wie möglich selbständig seinen Alltag bewältigen können. Dabei ist Digitalisierung nicht nur ein Hindernis, sondern eben auch eine Chance.
Denn, die Entwicklung hin zu einer digitaleren Welt werden wir so wenig aufhalten können, wie Kaiser Willhelm II das Automobil stoppen konnte. Wir können aber mit gesellschaftlichen und politischen Leitblanken dafür sorgen, dass auf diesem Weg niemand auf der Strecke bleibt.
Vielen Dank.