Wir alle sind die Schweiz

Ansprache an der Bundesfeier 2014 in Lostorf

„Ist das jetzt der Röstigraben?“, hat unsere Tochter uns letzte Woche gefragt, als wir auf unserer Velotour von Bern Richtung Murten gefahren sind und gerade von Gurmels nach Barbarêche, erstmals von einem deutschsprachigen in ein französischsprachiges Dorf gefahren sind. Auf unserer Velotour haben wir dann diesen Röstigraben noch ein paar Mal überquert. Aufgefallen sind uns die vielen Schweizerflaggen, die uns auch jenseits des Röstigrabens begegnet sind. Ob sie noch von der Fussball-WM her stammten oder ob sie bereits für den 1. August rausgehängt worden sind, wahrscheinlich trifft beides zu. Auf jeden Fall hat unsere Tochter festgestellt, punkto Heimatgefühl haben respektive sich zur Schweiz bekennen, da gibt es definitiv keinen Röstigraben. Auch sonst hatten wir Mühe unserer Tochter zu erklären, warum denn nun dieser Röstigraben ein Graben sein soll. Ist es die Sprache? Die Verständigung war erfreulich unkompliziert. Sogar mit mir wurde Französisch gesprochen und nicht etwa Englisch, wie das mir in Paris passiert ist, als ich mich als Fremdsprachenantitalent in Französisch versuchte. Unsere Tochter, die eigentlich das Französisch in der Schule bisher unnötig fand und lieber Englisch lernt, stellte fest, es wäre doch eigentlich naheliegend, dass man während der Schulzeit auch mal einen Klassenaustausch mit einer welschen Klasse machen würde.

Ist der Röstigraben somit ein Mythos und die Schweiz ein einig Volk von Eidgenossinnen und Eidgenossen? So einfach ist es wohl nicht, denn ein ganz anderer Graben ist auf unserer Velotour von Olten über Bern, Murten und Moudon nach Montreux und retour über Greyerz, Fribourg, La Neuville über  Grenchen, Solothurn zurück nach Olten augenfällig geworden. Die Radwanderwege verliefen durch idyllische Naturlandschaften, Weizen- und Sonnenblumenfelder, Orte bestehend aus Bauernhöfen und Spychern, als ob die Welt im letzten Jahrhundert stehen geblieben ist, Wir fuhren an Burgen, idyllischen Städtchen und Dörfern vorbei. Und wir haben uns richtig an diese wunderschöne idyllische Schweiz gewöhnt und haben gerade Ersigen durchquert, da fuhren wir von einer Minute auf die andere mitten in die Einkaufszentren von Kirchberg. Wir waren umgeben von Lastwagen, Autos, Lärm und Gestank, riesigen Einkaufshallen. Eine halbe Stunde später waren wir in Schönbühl. Das Dorf wird durchschnitten durch die Tag und Nacht lärmende Autobahn. Diesseits der Autobahn erkennt man noch das Bauerndorf, jenseits der Autobahn breitet sich die städtische Einkaufsmeile aus. Noch nie waren uns die Gegensätze zwischen Stadt und Land,  zwischen Tradition und Moderne, so nahe und erlebbar geworden wie auf dieser Velotour. Die Schweiz zeigte sich uns auf kleinstem Raum einerseits unberührt ländlich bewahrend und andererseits urban geschäftig vorwärtstreibend im 21 Jahrhundert angekommen.

Diese Gegensätze zwischen Stadt und Land reissen denn heute auch die wahren Gräben auf, so den politischen Graben, welcher in vielen Abstimmungen zum Ausdruck kommt. Auch wenn ab und zu, wie diesen Februar, der Röstigraben wieder einmal die Schweiz politisch entzweit haben soll. Bis jetzt hat der gut eidgenössische Kompromiss die verschiedenen Problemwahrnehmungen der Land- und der Stadtbevölkerung entschärft. Die Gegensätze ausgeglättet. Immer mehr werden die Gegensätze zwischen Stadt und Land aber scheinbar unüberwindbar.

Die Schweiz verbindet Gegensätze auf kleinstem Raum. Auch hier in Lostorf sind diese Gegensätze offensichtlich. Lostorf ist eine moderne Gemeinde mit einer modernen Infrastruktur und einer Bevölkerung zusammengesetzt aus verschiedenen Nationalitäten. Von der Höhe von Winznau aus sieht man Lostorf zwischen zwei Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten. Oben auf dem Hügel trohnt das Schloss Wartenfels, trutzig in Schönheit des Vergangenen. Meine Erinnerung an dieses Schloss ist die Erinnerung an den früheren Bewohner des Schlosses, Prof. Johannes Georg Fuchs, Professor für Kirchenrecht und römisches Recht an der Uni Basel. Bis zu seinem Ableben ein Verfechter von Latein als Voraussetzung zum Studium der Jurisprudenz in Basel.  Als Nichtlateinerin musste ich daher im ersten Studienjahr die lateinischen Vokabeln büffeln. Den ganzen Sommer lang sass ich deshalb zuhause in Däniken mit direktem Blick auf Schloss Wartenfels, der Sommerresidenz von  Professor Fuchs, gerichtet. Es war ein qualvoller Sommer. Prof Fuchs hat mich dann gnädigerweise durch die Prüfung kommen lassen, trotz, so bemängelte er, meiner völlig unzulängliche lateinischen Aussprache. Wie denn auch immer diese hätte sein müssen.. es war geschafft. Ein Jahr  später verstarb Prof Fuchs und das Lateinobligatorium an der Juristischen Fakultät, eine Tradition, ohne die man sich die Uni nicht hat vorstellen können, wurde sofort abgeschafft und niemand vermisste es.

Am entgegengesetzten Rand von Lostorf ragt der Kühlturm pompös in die Landschaft. So pompös, wie ich den Kühlturm von Däniken her, unmittelbar daneben wohnend, nie wahrgenommen habe. Auch dieser Kühlturm war mir von Kindsbeinen an ein Symbol für eine in Stein gemeisselte Philosophie, wie die von Prof. Fuchs, nur war dies die Philosophie auf die Zukunft und nicht die Vergangenheit gerichtet. Aber auch diese Philosophie ist im Nachgang der Ereignisse in Japan nun doch auch im Kanton Solothurn relativiert worden, was man sich als Dänikerin nie hätte vorstellen können.

Was ich damit ausdrücken will ist, dass Gegensätze, die Vergangenheit und die Zukunft, alte und neue Ideen aufeinandertreffen, aber auch immer wieder relativiert werden. Neues wird in Frage gestellt, Altes wird preisgegeben. Ob zum Guten oder Schlechten sei offen gelassen, ob Land oder Stadt, ich bin überzeugt, je nach Betroffenheit ziehen sich die Gräben immer wieder an neuen Orten oder ebenen sich aus.

Das Bild der Schweiz ist einem stetigen Wandel unterworfen. Wir alle sind Akteure in diesem Prozess. Niemand hat das alleinige Definitionsrecht, was die Schweiz ist.

Wir müssen die Spannung zwischen den verschiedenen "Welten" und Kulturen in unserem Land aushalten können. Der ständige Wandel ist anstrengend, ermüdend, aber es gibt ja zum Glück auch immer wieder Erlebnisse, die uns Freude machen. Sei es eben eine Velotour, die Faszination und Schönheit des Landes erleben lässt, sei es ein schönes 1.Augustfest in der Gemeinde, was auch immer. Wer positiv eingestellt ist, findet immer wieder "Gfreuts".
Das gibt uns Kraft und Energie, all die Herausforderungen anzunehmen. Was uns nie abhanden kommen darf, ist der Sinn für das Gemeinsame, der Wille, die Herausforderungen gemeinsam zu meistern. Harte Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten sind in Ordnung, die gehören dazu. Wenn sich aber ganze Bevölkerungsgruppen nicht mehr als Teil des Ganzen empfinden und sich abkoppeln, dann muss uns das alarmieren.

Wir alle, die wir hier leben, sind die Schweiz. Packen wir die Zukunft zusammen an