Würde und Anstand

Hans ist 57 Jahre alt, seit bald 35 Jahren arbeitet er als Werkstattchef bei einem international erfolgreichen Unternehmen. Arbeitete, muss man sagen, denn kürzlich wurde er ins Büro des Personalchefs zitiert. Die Wirtschaftskrise, starker Euro, Exportprobleme… Er könne sofort verfügen, müsse nicht mehr zu Arbeit erscheinen. Der Mann hat Tränen in den Augen, wenn er das erzählt. Er habe jahrelang alles gegeben für diese Firma. Im ersten Moment habe er noch ein gewisses Verständnis für die Situation gezeigt, aber als er dann von einem Arbeitskollegen erfahren musste, dass die Firma ihn mit einem Temporärmitarbeiter ersetzt habe, packte ihn Wut und Verzweiflung.

Renato, Vater von zwei kleinen Kindern, ist seit Jahren beim Schweizer Ableger eines deutschen Unternehmens tätig. Ein engagierter Mitarbeiter, der sich zum Abteilungsleiter hochgearbeitet hat. Renato hat sich immer für seine Abteilung, wo vor allem Frauen arbeiteten, eingesetzt. Er zeigte viel Verständnis dafür, dass manche von ihnen nach der Arbeit auch noch für Haushalt und Kinder zu sorgen hatten. Deshalb achtete er darauf, dass sie nur in Ausnahmefällen Überstunden leisten mussten. Doch dann sei dieser neue Chef gekommen, ein Deutscher, ein „Studierter“. Und der habe verlangt, dass eine im 7. Monat schwangere Frau eine grosse Papierrolle hätte herumtragen sollen. Dagegen hat Renato protestiert. Eines Tages wurde er ins Chefbüro zitiert und sofort freigestellt. Wie ein Schwerverbrecher sei er aus der Firma geführt worden. Auch wenn er mittlerweile bereits neue Angebote erhalten hat, ist für ihn eine Welt zusammengebrochen. Dass er seine Stelle verloren habe, könne er verkraften, aber dass er „seine“ Mitarbeiterinnen im Stich gelassen habe, das beschäftige ihn sehr.

Azem, 52, hat die Stelle verloren, weil neue Manager kamen und in Produktion und Chefetage alles umgekrempelt haben. Azem sieht kaum eine Chance, eine Arbeit zu finden. Niemand wolle einen über 50jährigen. Vor 25 Jahren habe man ihn in die Schweiz geholt und ihm gesagt er solle bleiben, es gebe viel Arbeit für ihn hier.

Das sind nur drei Einzelschicksale unter vielen. Sie müssen uns zu denken geben. Wie ist es möglich, dass in den Chefetagen trotz angeblich schlechter Wirtschaftslage die Lohnbezüge unverschämt steigen, während unten Löhne gedrückt und engagierte Mitarbeitende kaltschnäuzig auf die Strasse gestellt werden?

Natürlich erschallt nun der Chor all jener, die es schon immer gewusst haben, wohin die Personenfreizügigkeit führen wird. Als Sozialdemokratin möchte ich da nicht mit einstimmen. Abschottung und Einzelgängertum sind keine Lösung, sondern eine Illusion. Wo man aber genau hinschauen muss: Greifen die flankierenden Massnahmen, die vor Lohndumping schützen sollen. Oder muss hier eine härtere Gangart, auch gegen den Widerstand der EU, eingelegt werden?

Wir müssen auch laut fragen, wie ehrlich die Unternehmer sind. Offiziell stehen sie zum Prinzip der flankierenden Massnahmen und zeigen Verständnis für die Befürchtungen der Gewerkschaften. Offensichtlich sind das aber für viele nur Lippenbekenntnisse. Im harten Alltagsgeschäft ist es scheinbar allzu verlockend, einen teuren langjährigen Mitarbeiter gegen einen billigen deutschen Temporärmitarbeiter auszutauschen. 

Wer als Unternehmer Würde und Anstand mit Füssen tritt und seine soziale Verantwortung nicht wahrnimmt, spielt mit dem Feuer. Und wer glaubt, dass SP und Gewerkschaften das Kämpfen verlernt haben, der täuscht sich.

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