Bitte politisch neutral!
Festansprache zum 150 Jahre Jubiläum Sängerverbund Wasseramt-Solothurn Lebern vom 1. September 2018
«Der Gesang ist die Sprache der Empfindung. Kein Instrument kann uns den Gesang ersetzen, den die eigene Seele aus eigener Brust zieht. Der Gesang, sowohl der der Freude als auch des Schmerzes, ist das Bestreben, sich der Empfindungen, die dem Herzen zu mächtig werden, durch die Stimme zu entledigen. » Dieses schon fast poetische Zitat stammt aus der Festschrift von 1918 zum 50jährigen Jubiläum des Sängerverbandes Wasseramt. Wobei die Feierlichkeiten wegen der schwierigen Zeiten am Ende des 1. Weltkrieges erst 1919 stattgefunden haben. Die politische Lage war damals sehr aufgeheizt. Dies hatte zur Folge, dass nach der Feier von 1919 zwei Chöre aus dem Verband aus politischen Gründen austraten. Genaueres erfahren wir nicht und der Verbandspräsident betonte damals die politische Neutralität.
Doch Hand aufs Herz: Zur Zeit der Gründung des Wasserämter Sängerverbandes im Jahr 1868, als auch des Sängerverbandes Solothurn Lebern im Jahr 1863, hatten Gesangsvereine, wie auch Turn- und Schützenvereine, eine wichtige politische Bedeutung. Es galt, den noch jungen Staatenbund von 1848 zusammenzuschweissen und zu feiern. Das belegen unter anderem die vielen patriotischen Lieder, welche die Chöre damals in ihrem Repertoire hatten. Ich glaube, die Gesangsvereine stellten auch ein wichtiges Bindeglied zwischen Fortschrittlichen und Konservativen dar. Kirchliches und patriotisches Liedgut lebten friedlich nebeneinander, was damals bei all den Meinungsverschiedenheiten keine Selbstverständlichkeit war. In den Unterlagen ist von Bestrebungen zu lesen, eine mobile Festhütte für die Gesangsfeste anzuschaffen. Dabei kamen allerdings Bedenken auf, ob dadurch nicht das Gastrecht in den Kirchen verspielt würde. Politisch gefärbtes Singen ist kein Problem, so lange der Chor aus Gleichgesinnten besteht. Die Vaterlandsliebe und der gemeinsame Glauben stellten damals eine starke Klammer dar.
Aber die weltanschaulichen Differenzen nahmen im Laufe der Jahre zu. Ein Höhepunkt der Polarisierung wurde sicher ab 1918 mit der Zeit des Landesstreiks und in den darauffolgenden Jahren erreicht. In diese Zeit fallen denn auch die im eingangs erwähnten Austritte.
Wie der Aktuar des Sängerverbandes Wasseramt 1919 betonte: «Wir sind politisch neutral, verpönen im Verband die Politik und sind gewillt, sie bei Übergriffen in die Schranken zu weisen. Dem Verband ist jeder willkommen, der sangesfreudig ist, ob seine politische Farbe glänze, schillere, funkle oder eventuell nur durch dicken Nebel schimmere.»
Schön gesagt, finde ich. Ich glaube, solche konfliktfreien Zonen und Treffpunkte brauchen wir. Orte, in welchen wir es einfach gut zusammen haben können, wo niemand auf die Idee kommt, dem anderen wegen seiner Ansichten aufs Dach zu steigen oder jemanden in den Senkel zu stellen. Wenn es nur so einfach wäre! «Alles ist politisch» war ein Slogan, den ich in meiner Jugendzeit oft gehört und gelesen habe. Über die politische Rolle der Gesangsvereine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe ich bereits gesprochen. Wer spitzfindig ist, könnte auch in der Liederauswahl politische Tendenzen ausmachen.
Aber vieles scheint auch völlig unverdächtig. Scherzlieder, Lieder über Freundschaft, Geselligkeit, die Natur. Wenn ich in den alten Berichten blättere und die Lieder-Listen überfliege, fällt mir auf, wie viele Lieder über den Frühling gesungen wurden. Gibt es etwas «Gfreuteres» und Unpolitischeres als den Frühling! In Frühlingsgefühlen schwelgen wir alle gerne. Das war vor 150 Jahren so und ist auch heute nicht anders. Aber da fällt mir doch tatsächlich Wolf Biermann ein, der in der damaligen DDR gesungen hatte: «Das Grün bricht aus den Zweigen, wir wolln das allen zeigen, dann wissen sie Bescheid.» Auch ein Frühlingslied, aber ein hochpolitisches.
Das führt mich zur ketzerischen Frage: Könnte ein Chor des Sängerverbandes Wasseramt-Solothurn-Lebern im Jahre 2018 das berühmte Lied «Ermutigung», aus dem diese Zeilen stammen, singen? Ein Lied, das immerhin auch schon 50 Jahre alt ist, dessen Zeilen bereits damals in Ost und West unterschiedlich interpretiert wurden und das heute in vielen Gedichtbänden zu finden ist?
Wenn eine Chorleiterin sich inspiriert fühlt, dieses Lied einzustudieren, wenn die Sängerinnen und Sänger sich dafür begeistern können, warum nicht? Ich plädiere für gesunden Menschenverstand, irgendwo zwischen politisch neutral und «alles ist politisch».
Manchmal soll ein Lied einfach ein Lied sein: Gemeinsam singen macht Freude, verbindet und tut gut. Ich hoffe, dass dies immer wieder neue Generationen erleben und erfahren. Danke an euch alle, die ihr den gemeinsamen Gesang lebendig erhaltet und euch bemüht, die Begeisterung dafür an die nächste Generation weiterzugeben.
Wie wir aus den früheren Jubiläumsberichten entnehmen können, gab es immer wieder Zeiten, in denen es ruhig war, in denen Chöre aufgelöst werden musste. Aber dann kamen auch wieder Zeiten, in denen der Chorgesang zu neuem Leben erwachte. Wer weiss, vielleicht singt einmal ein Chor in einer Mischung aus Trotz und Triumph, an all jene gerichtet, die das Chorsingen als überholt betrachten: «Das Grün bricht aus den Zweigen, wir wolln das allen zeigen, dann wissen sie Bescheid.»